Eklatante Missstände mit Tatbeständen bis hin zur modernen Sklaverei, das ist der Vorwurf, den Camion Pro Teilen der europäischen Transportwirtschaft macht. Zum Beleg führt der Branchenverband neben eigenen Recherchen und Fahrerbefragungen auch eine aktuelle wissenschaftliche Studie und Beobachtungen der Kontrollbehörden an. Die Vorwürfe richten sich überwiegend an osteuropäische Speditionen. Es zeige sich aber, dass auch Deutschland betroffen sei und Gesetzgeber wie Behörden viel zu wenig dagegen unternähmen.
Seine harsche Kritik, die auf Unternehmen und Politik zielt, formulierte Camion Pro-Vorstand Andreas Mossyrsch auf einem Symposium im München am 26. April 2022. Zum Beleg präsentierte er eine aktuelle Umfrage bei der die Wirtschaftsuniversität (WU) Wien mit der Griffith University, Queensland/Australien sowie dem Branchenverband zusammengearbeitet hatte. Teilgenommen hatten 1.027 Lkw-Fahrerinnen und -Fahrer aus Belarus, der Ukraine und weiteren osteuropäischen Staaten. Mossyrsch will damit „eklatante Missstände im europäischen Transportgewerbe“ belegen.
Dr. Wolfram Groschopf von dem an der Studie beteiligten Institut für Transportwirtschaft sprach von „moderner Sklaverei in der europäischen Transportwirtschaft“. 95 Prozent der Befragten seien bei Speditionen in Litauen und Polen beschäftigt und dort von massiver Ausbeutung betroffen.
So gaben etwa 63 Prozent der Befragten an, über keine Arbeitslosenversicherung zu verfügen. 92,4 Prozent waren nicht rentenversichert. Zugleich sind niedrige Fixgehälter mit weniger als 400 Euro oder eine leistungsabhängige Bezahlung an der Tagesordnung. Mindestlohn und bezahlte Urlaubs- oder Krankheitszeiten gibt es nicht. Dabei gaben annähernd 70 Prozent der Befragten an, pro Arbeitseinsatz acht bis zwölf Wochen oder mehr am Stück von zu Hause weg zu sein. 35 Prozent aller Befragten erklärten zudem, von ihrem Arbeitgeber regelmäßig mit gefälschten Dokumenten, wie Urlaubsscheinen, Hotelrechnungen oder sonstigen Transportdokumenten ausgestattet zu werden.
Groschopf wertet die Umfrage nicht nur als Beleg für die allgemein schlechten Arbeitsbedingungen osteuropäischer Lkw-Fahrerinnen und -Fahrer.
„Die Studie zeigt zudem, dass die Covid-19-Pandemie zu einer weiteren Verschlechterung der Arbeitsbedingungen beigetragen hat. Der Ukraine-Krieg verschärft die schlechte Arbeitssituation vieler osteuropäischer Lkw-Fahrerinnen und -Fahrer zusätzlich.“
Firmen nutzen Unwissenheit und Sprachbarrieren aus
Die Ergebnisse der aktuellen Studie würden sich mit seinen Recherchen decken, sieht sich Camion Pro-Vorstand Andreas Mossyrsch bestätigt. Er war im vergangenen Jahr selbst in Litauen war, um Informationen aus erster Hand zu erhalten. Auf dem Symposium in München berichtet er von einem Gespräch mit dem Oppositionspolitiker Laurynas Šedvydis, der offen den Verdacht mafiöser Strukturen in der litauischen Transportbranche geäußert haben. Einige der verdächtigten Firmen gehören demnach zu den größten Wirtschaftsunternehmen des Landes. Šedvydis sagt, so berichtet des der Camion Pro Vorstand, dass die Unternehmen die Regierung unter Druck setzen, indem sie mit Abwanderung drohen.
„95 Prozent der Beschäftigten im internationalen Transport, kommen aus Nicht-EU-Staaten. Diese Gruppe wird systematisch ausgebeutet“, erklärt Mossyrsch.
Mossyrsch zitiert auch einen litauischen Rechtsanwalt, der regelmäßig Lkw-Fahrer vor Gericht vertritt und lieber anonym bleiben möchte. Den Fahrern würden Verträge und Abrechnungen oft ausschließlich in litauischer Sprache vorgelegt, sodass sie den Inhalt nicht verstehen. Mit ihrer Unterschrift verzichten sie dann auf bezahlten Urlaub, auf die Rückkehr an den Heimatstandort für die wöchentliche Ruhezeit und auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Es komme sogar vor, dass sich die Fahrer unwissentlich zu Schadensersatz oder Lohnabzug verpflichteten, falls es zu einem Unfall oder Rangierschaden komme oder die Verfügung gestellten Tankkarten verloren gingen oder gestohlen würden.
Rechtsverstöße ohne Ahndung
Rechtsanwältin Margit Fink, die eine rechtliche Einschätzung der Vorwürfe gab, konstatierte:
„All diese Praktiken verstoßen gegen die Europäische Sozialcharta.“
Viele Absprachen, Verträge und Praktiken seien auch nicht mit der europäischen Richtlinie zur Entsendung von Kraftfahrern im Straßenverkehrssektor vereinbar. Zwar bestehe bei einem Einsatz der betroffenen Fahrer im Bundesgebiet grundsätzlich die Möglichkeit vor deutschen Gerichten ihre Rechte einzuklagen, so Anwältin Fink, jedoch wissen die Fahrer meist nicht, an wen sie sich bei Rechtsverletzungen wenden können. Zudem fehlen meist die Mittel, um einen qualifizierten Rechtsbeistand zu bezahlen.
Camion Pro-Vorstand Andreas Mossyrsch fordert nun die Einführung einer europäischen Sozialversicherung, Renten-, und Urlaubskasse, die unter der zentralen Verwaltung der Europäischen Union stehen müsste. Auch einen EU-weiten Sozialversicherungsausweis würde Mossyrsch begrüßen. Daneben schlägt er eine Umstrukturierung der deutschen Kontrollbehörden vor. Zoll und des BAG sollten ihre Aufgaben im Bereich des Straßengütertransports abgeben. Stattdessen sollte eine neue Behörde die Kontrollen zu Sozialdumping, Ladungssicherung, Arbeitsgenehmigungen, Fahrzeugsicherheit, Gewerbe, Tacho und Abgaskontrolle übernehmen und ganzheitlichen Kontrollen nach belgischem Vorbild durchführen.
Darüber hinaus forderte der Camion Pro-Vorsitzende ein europaweites Zentralregister für Straftaten und Verstöße im Bereich den gewerblichen Güterkraftverkehr. Zudem müssten die Bußgelder für Verstöße so angepasst werden, dass sie den wirtschaftlichen Vorteil aus der Tat deutlich übersteigen. Andreas Mossyrsch:
„Es muss ein eskalierendes Bußgeld- und Sanktionssystem geschaffen werden, das kriminellen Unternehmen die Geschäftsgrundlage entzieht.“
Unternehmen, die wiederholt durch Verstöße auffallen, müsse zudem die EU-weite Güterkraftverkehrsgenehmigung entzogen werden. Grundlage hierfür sei, dass man in diesem Fall von einer fehlenden unternehmerischen Zuverlässigkeit auszugehen müsse, die jedoch ein wesentliches Zulassungsmerkmal für die Erteilung einer EU-Lizenz sei.