Audi e-tron GT: Neckarsulmer Express(ionismus)
Egal, wo man mit dem e-tron GT quattro auftaucht: Er sorgt für neugierige Blicke und verdreht Köpfe. Mit seinem expressiven Design hat Audis Chefdesigner Marc Lichte also schon mal alles richtiggemacht, was auch fürs Interieur gilt: Man sitzt im Gegensatz zum Porsche Taycan auf üppigerem (und immer knarzfrei montiertem), bequemerem Gestühl. Die Armaturentafel ist glasklar Audi. Und der e-tron GT ist trotz einer prinzipbedingt ähnlichen Grundstruktur wie beim Taycan besser bedienbar als dieser. Doch sobald man den Sitz ganz nach unten fährt und das Fahrpedal nur leicht antippt, verschwimmen die Unterschiede: Auch der e-tron GT ist eine Bodenrakete mit vergleichsweise steil stehender Frontscheibe, was ein bisschen an klassische 911er erinnert. Sauber gehalten wird die Scheibe wie im Taycan von einfachen Spritzdüsen und Wischern, was ganz hervorragend funktioniert.
So wie das ganze Auto, das jegliche Unebenheiten gekonnt wegfiltert, dabei aber eine Idee komfortabler federt als der knochigere Porsche. Es sind feine, aber bewusst gesetzte Unterschiede, die die nahen Verwandten aus Zuffenhausen und dem nur gut 50 Kilometer entfernten Neckarsulm differenzieren. Ähnliches gilt für die Leistungen, wobei wir hier grob gesprochen auf dem Niveau des Taycan 4S fahren, heißt: Bei Bedarf schießt der e-tron GT binnen 4,4 Sekunden auf 100 km/h und stellt sich mit 390 kW im Boost (530 PS) und 640 Nm Drehmoment direkt neben den Porsche Taycan 4S, der auf dem Papier minimal bessere Fahrleistungen und vor allem viel realistischere Verbrauchswerte bietet: Denn während Audi 19,9 bis 21,6 kWh/100 km angibt, nennt Porsche die breite Spanne von 21,0 bis 26,0 kWh/100 km. Die umspannt sehr real die von uns gemessenen 24,6 kWh/100 km (inklusive Ladeverlusten), die allerdings deutlich näher am Taycan Cross Turismo Turbo S als am von uns getesteten Basis-Taycan liegen. Merke: Zwei Antriebe kosten bei Stromern immer mehr Strom!
Auch dem Audi macht im städtischen Stop-and-go sein hohes Gewicht von gewogenen 2.368 Kilogramm zu schaffen, das die Verbräuche kaum unter 22 kWh sinken ließ. Landstraßengleiten mit Navigation und gesetztem Tempomaten honoriert er mit Werten unter 20 kWh/100 km. Dabei ist man aber mit dem eigenen rechten Fuß immer besser unterwegs als mit Audis Navigation, die nach Möglichkeit immer wieder gern zügig auf 100 km/h hochzieht, wo man selbst schon die nächste sehr enge Kurve oder in der Ferne den nächsten Lkw erspäht und es deshalb ruhiger angehen lässt. Auf der Autobahn zieht sich der e-tron GT bei den üblichen Tempi zwischen 100 und 150 km/h netto zwischen 22 und 23 kWh – und bleibt hier erstaunlich konstant.
Kurzer Vergleich zum ähnlich eleganten A7 als TDI: Der dürfte im Energieäquivalent gut 4,9 Liter Diesel pro 100 Kilometer verbrauchen, was er eher nicht schaffen wird. Dafür bietet der A7 bei tatsächlich fast identischer Länge und Höhe merklich mehr Platz im Fond. Denn wie der Taycan trägt der e-tron GT noch seinen 83,7-kWh-(brutto 94,3 kWh)-Akku im Boden und das kostet Innenhöhe. Und auch der e-tron GT bescheidet sich mit einem kleinen Kofferraumdeckelchen, hinter dem immerhin 405 Liter Volumen liegen, die sich durch Umlegen der Rücksitzlehnen erweitern lassen. Achtung: Das formidable optionale B&O-Soundsystem knapst nochmal 25 Liter weg. Zur Beruhigung: Der A7 TFSI e quattro bietet hier auch nur 380 bis 1.235 Liter, der A7 TDI aber großzügigere 525 bis 1.380 Liter. Immerhin kann man das Kabel in den 85-Liter-Frunk packen.
Dafür wirkt der e-tron GT nicht nur flacher, sondern fährt sich auch so: fast kartähnlich bodennah, mit erstaunlich kleinem Wendekreis und sehr fahraktiv – „porschig“ eben. Und weil er auch die 800-Volt-Architektur nutzt, lädt er auch schnell: Klar dauert das mit elf kW neun Stunden und 30 Minuten und mit aufpreispflichtigen 22 kW immer noch fünf Stunden. Doch am Schnelllader hat man den SOC-Hub von zehn auf 80 Prozent in einer halben Stunde erledigt, zumal der Audi seine Peak-Ladeleistung von bis zu 270 kW lange hält. Oder anders gerechnet: Wer den e-tron GT brav aufs Laden vorkonditioniert, kann sich 100 Kilometer Reichweite in gut fünf Minuten nachziehen. Damit ist er uneingeschränkt fernreisetauglich, auch wenn man mit einer Akkuladung in der Realität meist nur gut 300 bis 350 Kilometer weit kommt – weit genug, um auch größere EU-Staaten mit zwei bis drei größeren Ladehüben zu durchqueren. Der Preis spielt in dieser Kategorie eher eine untergeordnete Rolle, trotzdem wundert man sich, was der e-tron GT für gut 86.512 Euro netto Startpreis (das sind 102.950 Euro brutto) alles nicht in Serie mitbringt. Der genauso nackte (sehr vergleichbare) Taycan 4S kostet rund 5.000 Euro mehr – da kommt ein A7 Plug-in ab gut 57.058 Euro netto (rund 67.900 Euro brutto) deutlich günstiger.
Dafür ist der e-tron GT definitiv der porschigste Audi und verdreht auch über ein Jahr nach seinem Debüt noch zahlreiche Köpfe. Und folgt damit einem weiteren „Neckarsulmer Expressionisten“, dem NSU Ro 80. Der wurde zwar auf der anderen Seite des Neckars gebaut, blieb aber auch bis heute ein Charakterdarsteller.
PRO - schnell, spaßig und einigermaßen sparsam zu fahren
CONTRA - eher dünne Basisausstattung, keine Heckklappe