Jeder von einem Lkw getötete Fußgänger oder Radfahrer ist einer zu viel. Darüber herrscht Einigkeit. Die obligatorische Einführung von Tote-Winkel-Warnern ab Werk ist gleichwohl erst ab 2022 geplant. Und gilt dann nur für Neufahrzeuge. Was aber ist mit dem Altbestand? Gut drei Millionen Lkw sind auf unseren Straßen unterwegs, der Großteil ohne Abbiegeassistent. Ein riesiger Markt für alle Anbieter einer Nachrüstlösung. Derer gibt es viele, mit vielen unterschiedlichen Ansätzen. Während die großen Hersteller für ihre Werkslösungen Systeme mit Radarsensoren favorisieren, zogen einige Nachrüster optische Kamerasysteme oder gar veraltete Ultraschallsensoren vor. Das hat sich gründlich geändert. Wer in Covid-Zeiten die Chance hatte, einmal über die einzige, 2021 stattfindende Truck-Messe Nufam in Karlsruhe zu spazieren, konnte gleich mehrere Tote-Winkel-Warner entdecken – allesamt basierend auf Kamerasystemen. Die Kameras bilden jedoch nicht nur einfach den Raum neben dem Fahrzeug als Bild ab – das wäre ja einfach. Es geht schließlich darum, zuverlässig einen Fußgänger oder Radfahrer zu detektieren und seine Anwesenheit dem Fahrer zu melden. Und das ist genau der Knackpunkt: Kann der Assistent das zuverlässig? Oder nervt er den Chauffeur mit permanenten Fehlmeldungen, die ihn schließlich entnervt seinen Assistenten abschalten lassen.
Das darf nicht sein. Fehlmeldungen müssen also zu hundert Prozent vermieden werden, soll der Tote-Winkel-Warner seinen Sinn erfüllen. Genau diesen Ansatz verfolgt Knorr-Bremse Truck Services, der Aftermarket-Bereich des Münchner Trucks-Ausrüsters Knorr-Bremse, beim neuen ProFleet Assist+ Gen 2. Hinter der etwas sperrigen Bezeichnung verbirgt sich ein ganzes Bündel von Fahrerassistenz-Funktionen – mit Hauptbestandteil Abbiegewarner. Mit dabei sind auch ein vorausschauender Kollisionswarner, ein Spurhaltewarner, ein Fußgänger-Kollisionswarner (von vorne), eine Abstandsüberwachung und schließlich eine Verkehrszeichenerkennung.
Weiter Blickwinkel
Als Sensoren dienen dabei eine Frontkamera und eine Seitenkamera, die seitlich am Heck des Fahrzeugs zu montieren ist und so den gesamten rechten (bei Bedarf auch den linken) Bereich des Lkw überstreicht. Der überwachte Bereich (6,0 mal 2,5 Meter) rechts neben dem Lkw entspricht den Bauvorgaben des Bundesverkehrsministeriums für förderfähige Nachrüst-Abbiegeassistenten. Der Anspruch der Knorr-Entwickler geht aber weit über diesen Mindeststandard hinaus. Erfasst wird ein Gefahrenkorridor von maximal 35 Meter längs des Fahrzeugs, mit einer Breite von 4,5 Metern. Auch von vorne heranbrausende Radfahrer erkennt ProFleet Assist+.
Auf dem Knorr-Testgelände in Oberschleißheim bei München konnte unsere Schwesterzeitschrift „Transport“ als erste Test-&-Technik-Redaktion der neuen Nachrüstlösung auf den Zahn fühlen. Der Test-Truck, ein schon etwas betagter Actros 2541 6x2, gleicht einem rollenden Labor. Das Fahrerhaus ist vollgestopft mit Messequipment, Kameras und Warngebern für verschiedene, teilweise noch in der Entwicklung befindliche Systeme. Für uns ist heute die mittlere Frontkamera entscheidend, dazu gehört der ebenfalls mittlere von drei, etwa handygroßen Warnmeldern, die entlang der rechten A-Säule befestigt sind. Was man hier nicht sieht, ist die hintere Seitenkamera, die den so wichtigen Bereich des toten Winkels neben und knapp hinter dem Fahrerhaus erfasst. „Wie – kein Monitor?“ „Nein“, bestätigt Ingo Lutz, Key Account Fleet Management Solutions, „aus gutem Grund: Viele Fahrer haben schon zwei, drei zusätzliche Monitore auf dem Armaturenbrett. Wir wollten eine Lösung, die maximale Alarmierung schafft, aber minimale Ablenkung.“ Deshalb beschränkt sich dieses System auf eine sehr einfache Art der Alarmierung: Steht ein Objekt (Fahrradfahrer, Fußgänger, Auto) im toten Winkel und der eigene Lkw steht ebenso, so zeigt der handygroße optische Alarmgeber nahe der A-Säule ein gelbes Fußgängersymbol. In dem Moment, in dem sich das eigene Fahrzeug bewegt, wechselt die Anzeige zur Farbe Rot. Droht Kollisionsgefahr, etwa durch eine weitere Annäherung (der Lkw leitet einen Abbiegevorgang ein), erfolgt ein nicht zu überhörender akustischer Alarm.
Bremsen muss weiterhin der Fahrer
Wichtig: Ein automatischer Bremseingriff erfolgt nicht! ProFleet Assist+ ist nicht mit den Funktionen des Fahrzeugs vernetzt – das heißt, der Fahrer muss reagieren und unverzüglich auf die Bremse treten, um eine Kollision zu vermeiden. Wir konnten an diesem Herbstmorgen so ziemlich alles ausprobieren, was draußen im Verkehr tagtäglich so vorkommt: Der Radfahrer, der im toten Winkel neben der Beifahrertür steht, der Radfahrer, der von hinten herangebraust kommt, der Radfahrer, der von vorne kommt. Fußgänger alleine – auch kein Problem. Pkw im toten Winkel: Das Warn-Display zeigt nichts an, kein akustischer Alarm. In dem Moment, wo der Autofahrer aus diesem Fahrzeug aussteigt, wechselt die Anzeige auf Gelb oder Rot plus akustischem Alarm, je nach seitlichem Abstand zum Lkw. Nach dem Durchspielen aller möglichen Situationen ist festzustellen: ProFleet Assist+ arbeitet fehlerfrei.
Ich setze noch eine Spezialprüfung an: Beim Lkw-Test über die Transport-Runde haben wir eine Ampel, an der oft Äste eines benachbarten Baumes ziemlich nahe an das Fahrerhaus reichen. Hier gab und gibt es immer wieder Fehlalarme bei dem einen oder anderen Nachrüstwarner. Hier nicht. Nach dem Ansteuern einer geeigneten Stelle mit in die Fahrbahn reichenden Ästen passiert erst mal gar nichts. Erst als ich wieder anfahre, meldet das Display Gelb, ein akustischer Alarm und die Anzeige Rot unterbleiben. Test bestanden.
Das Set-up des Knorr-Bremse-Abbiegewarners sieht oberflächlich betrachtet einfach aus, hat es computertechnisch aber in sich. Denn die Genauigkeit und Zuverlässigkeit, mit der die Elektronik arbeitet, kommt nicht von ungefähr. Knorr-Bremse arbeitet hier mit dem Intel-Unternehmen Mobileye zusammen. Das israelische Unternehmen ist seit mehr als 20 Jahren auf die Digitalisierung optischer Signale spezialisiert. Und das macht den Unterschied: Denn was die Kameras sehen, wird nicht einfach als Bild wiedergegeben, sondern analysiert und digitalisiert. Eine große Rolle spielen dabei Lernalgorithmen, die es der Software ermöglichen, Fußgänger, Radfahrer oder Autos als solche zu erkennen und in digitale Signale umzuwandeln. „Viele Tausend Stunden Videomaterial zum Einlernen der Software führen dank ausgefuchster Algorithmen zu einer sehr hohen Erkenn-Sicherheit“, sagt Knorr-Bremse-Ingenieur Klaus Binder. Wie der Computer seine Umgebung „sieht“, mag der Schnappschuss aus einem Mobileye-Video verdeutlichen: Fußgänger, vorausfahrende Autos, der Radfahrer rechts, selbst der aufgemalte Pfeil auf der Fahrbahn werden im Bruchteil einer Sekunde identifiziert und markiert. In diesem Moment werden sie zu Daten, mit denen der Computer im wahrsten Sinne des Wortes „rechnen“ kann. Einmal erfasst, kann das System auf jede Bewegung oder Ortsänderung des Fahrradfahrers reagieren. Selbst überraschendste Bewegungen werden so erkannt, blitzschnell interpretiert und führen nötigenfalls zu einem Alarm. Und Alarm heißt: bremsen! Und zwar sofort. Kein Blick auf einen Monitor oder in den Spiegel ist dafür nötig. Die schnelle Reaktion ist entscheidend, oft genug lebenswichtig entscheidend.
Diese Art der Objekterkennung steht offenbar den radarsensierten Systemen der Truck-Hersteller in nichts nach – so jedenfalls mein Eindruck. Aber wie sieht es nachts aus? Oder bei Schneegestöber oder anderen Unbilden des Wetters? Die neueste Generation der Kameras und die aktuelle Prozessorgeneration könne laut Knorr-Bremse-Bereichsleiter Aftermarket, Alexander Wagner, „auch mit schwierigen Lichtverhältnissen, zum Beispiel nachts und nur bei Fahrzeuglicht oder Straßenbeleuchtung, zurechtkommen.“ Ein integriertes Heizelement in den Seitenkameras ermögliche zudem den reibungslosen Betrieb auch bei Minusgraden.
Ein Warner, der warnt
Natürlich konnten wir auch die weiteren Funktionen des ProFleet Assist unter die Lupe nehmen: Der Abstandswarner tut das, was er soll, nämlich vor zu geringem Abstand zum Vordermann warnen. Er arbeitet geschwindigkeitsabhängig und zeigt neben dem grünen (okay) und dem roten (zu nah!) Abstandssymbol den Abstand bis zum potenziellen Aufprall auf die Stoßstange des Vordermannes in Sekunden an. Die Schwellwerte der meisten Funktionen lassen sich zudem nach persönlichen Vorlieben einstellen. Als sehr hilfreich kann sich die Verkehrszeichenerkennung erweisen: Wie viel km/h waren jetzt hier nochmal erlaubt? Ein Blick auf das kleine Rundinstrument schafft Klarheit. Überholverbote auch für Lkw könne das System zwar erkennen, noch nicht hundertprozentig sicher sei aber die Interpretation von Zusatzschildern, etwa über die Streckenlänge oder ähnliche Hinweise. Aber: Das System ist in ständiger Weiterentwicklung.
Die wichtigste Frage zum Schluss: Was kostet der ProFleet Assist+ Gen 2 für die Nachrüstung? Ab 1.800 Euro (ohne MwSt.) ruft Knorr-Bremse je nach Konfiguration auf, zuzüglich Montage versteht sich. Händlernachweis über Knorr-Bremse Truck Services, München.