Das Dorf und die Stadt

Führen Globalisierung und Digitalisierung tatsächlich dazu, dass das Einkommen in ländlichen Regionen in Europa langsamer wächst als in den Städten? Nein: Entgegen gängiger Vorstellungen verringern sich die Einkommensunterschiede zwischen Stadt und Land, das zeigt eine Analyse von Allianz Research...

Das Dorf und die Stadt
Das Dorf und die Stadt
Bert Brandenburg

Es ist ein beliebtes Klischee, das wir von vielen Romanen und Filmen kennen. Die Reichen werden reicher, die Armen werden ärmer. Und dann schreitet Robin Hood ein.

In der modernen Politik findet sich dieses Klischee in Form der zunehmenden Ungleichheit zwischen der Bevölkerung in den ländlichen Gebieten und den Ballungsräumen wieder. Mit dieser Ungleichheit wird vieles erklärt, vom Brexit bis zu der Gelbwesten-Bewegung in Frankreich. Es besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass technologische Veränderungen und Globalisierung nur den städtischen Eliten zugutekommen und die ländliche Bevölkerung benachteiligen.

Aber bestätigen die Zahlen diese Wahrnehmung? Oder werden die Fakten Opfer allgemeiner Überzeugungen? In einem aktuellen Bericht macht Allianz Research den Faktencheck…

Bild entfernt.Die Überraschung in Zahlen

Die Zahlen zeigen, dass die ländlichen Gebiete Europas in den letzten zwei Jahrzehnten nicht etwa langsamer, sondern schneller gewachsen sind als die städtischen Zentren – und zwar um gut 14,6 Prozentpunkte. Diese zeigt die Analyse von 1.078 Gebieten in Europa. Darüber hinaus hat sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf in den ärmsten Gebieten der 24 europäischen Länder dem Durchschnitt angenähert und inzwischen befinden sich mehr Regionen in der Mitte der Einkommensverteilung. Die regionale Einkommensverteilung wird also gleicher, wenn man die unterschiedliche Kaufkraft in den Regionen berücksichtigt.

Bedeutet das aber auch, dass sich die absoluten Einkommen in den Ballungsgebieten und dem ländlichen Raum angleichen? Die ländlichen Regionen wachsen zwar schneller, die Unterschiede bei den absoluten Einkommen nehmen aber weiterhin zu. Jedoch ist dies allein auf einige "Superchampion"-Stadtgebiete wie London, Paris, Frankfurt oder Brüssel zurückzuführen. Durch die besonders hohen Einkommen in diesen Städten wird das Gesamtbild verzerrt.

Der Aufholprozess ist in vollem Gange

Allianz Research hat sich die Entwicklung in den städtischen, mittleren und ländlichen Gebieten Europas genauer angesehen und zwischen 2000 und 2018 die Entwicklung der Wirtschaftsleistung pro Kopf analysiert, unter Berücksichtigung unterschiedlicher Kaufkraftstandards zur besseren Vergleichbarkeit.

Die relativen Einkommensunterschiede zwischen ländlichen und städtischen Zentren sind tatsächlich kleiner geworden. Die ländlichen Gebiete wuchsen im Berichtszeitraum durchschnittlich um 58,9 Prozent, während die städtischen Zentren um 44,3 Prozent wuchsen. Eine noch bessere Entwicklung zeigte sich bei den fünf ärmsten Gebieten des Jahres 2000 (vornehmlich in Rumänien). Zu Beginn des Jahrhunderts lag die Wirtschaftsleistung pro Kopf dieser Gebiete unter 15,4 Prozent des EU-Durchschnitts. Bis 2018 bewegte sie sich auf eine Spanne von 18,3 bis 25,4 Prozent, d.h. selbst die ärmsten Gebiete sind näher an den EU-Durchschnitt gerückt.

Einige reiche Gebiete haben sich ebenfalls dem Durchschnitt angenähert, ihre Situation hat sich damit aber gegenüber dem Jahr 2000 relativ verschlechtert. Die Zahl der Gebiete, in denen die Wirtschaftsleistung pro Kopf bei 150 Prozent des Durchschnitts oder höher lag, sank von 101 auf 94. Gleichzeitig stieg die Zahl der Regionen im Band von 80 bis 120 Prozent des Durchschnitts, von 462 auf 502.

Diese Analyse deutet auf einen Trend zu einer stärkeren Konvergenz der Einkommen in der EU hin.

Mehr Gleichheit?

Bedeutet dies, dass sich die Ungleichheit der Einkommen in Europa verringert hat? Absolut gesehen, nein. Aber angepasst an die Kaufkraft, ja. Es ist ziemlich offensichtlich, dass man mit einem Euro in Paris viel weniger kaufen kann als in einem Dorf in Rumänien.

Technisch wird mit dem GINI-Koeffizienten die Ungleichheit der Einkommensverteilung gemessen. Ein GINI-Koeffizient von Null bedeutet vollkommene Gleichheit, d.h. jeder verdient das Gleiche, während ein Wert von 1 perfekte Ungleichheit bedeutet, d.h. der gesamte Reichtum liegt bei nur einer Person.

In Europa insgesamt tendiert der Indikator nach unten, d.h. er bewegt sich in Richtung einer größeren Gleichheit. Von 0,261 im Jahr 2000 sank er auf 0,247 im Jahr 2018. Er stieg während der globalen Finanzkrise leicht an, ging aber 2015 wieder zurück.

Während das Bild für den ländlichen Raum eher optimistisch ist, ist es für die städtischen Zentren umgekehrt. Werden nur die städtischen Gebiete betrachtet, vergrößerte sich die die Ungleichheit, da die Bevölkerung der "Superchampions" viel mehr verdient.

Weniger macht mehr

Der BIP-Beitrag der 10 Prozent ärmsten Regionen zu Europa ist seit dem Jahr 2000 um 0,3 Prozentpunkte gestiegen – kein Anlass zum Jubeln. Beeindruckend ist aber, dass dieser Anstieg erzielt wurde, obwohl der Bevölkerungsanteil in diesen Regionen um 3,5 Prozentpunkte zurückgegangen ist. Vereinfacht ausgedrückt, trugen hier weniger Menschen zu einer etwas höheren Wirtschaftsleistung bei.

Die Erklärung? Die Binnenmigration, bei der Menschen arme Regionen innerhalb eines Landes verlassen, um bessere Verdienstmöglichkeiten zu finden, schadete nicht den Arbeitsmöglichkeiten. Tatsächlich haben weniger Menschen, die um die gleichen Arbeitsplätze konkurrieren, die allgemeine Einkommenssituation verbessert. Die Landflucht gleicht also die Einkommensverteilung zumindest auf den unteren Ebenen aus.

Länderbild

Wie sieht es auf nationaler Ebene aus? Werden die verschiedenen Länder in Europa in Bezug auf das Einkommen gleicher? Es scheint so.

Länder mit einem niedrigeren BIP pro Kopf - vor allem die mittel- und osteuropäischen Länder - weisen ein deutlich höheres jährliches Wachstum auf. Das Ergebnis ist, dass alle neuen Mitgliedsländer, mit Ausnahme von Zypern, ihre Position gemessen am EU-Durchschnitt verbessert haben.

Besonders hervorzuheben sind Rumänien und die Slowakei, wo sich insbesondere die städtischen Zentren positiv entwickelt haben.

Für die meisten alten EU-Mitglieder hat sich hingegen die Lage relativ verschlechtert, wobei Griechenland und Italien am schlechtesten abschnitten. Italien, das Land, das uns gastronomische Genüsse und High Fashion bescherte, rutschte sogar unter den EU-Durchschnitt.

Seit der Einführung des Euro konnte sich nur Irland stark verbessern, Deutschland und Dänemark schafften eine leichte Verbesserung.

Die Takeaways? Erstens, die neuen EU-Mitglieder gewinnen an Boden, während die alten Mitglieder meist nachlassen.

Zweitens, der Preis für den Aufholprozess der mittel- und osteuropäischen Länder ist eine höhere Einkommensdifferenz zwischen städtischen und ländlichen Gebieten.

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