Pirelli: Smarter und elektrisierend in die Zukunft

Bei Pirelli dreht sich das Neuheitenkarussell trotz Pandemie derzeit schneller denn je: Nach den speziellen Elect-Serien eigens für elektrifizierte Fahrzeuge präsentierten die Italiener den neuen Ganzjahresreifen Cinturato All Season SF 2, dem kurz darauf noch der erste Cyber-Tyre als OE-Reifen für McLaren folgte, der seine Daten direkt ans Auto meldet. Mit Michael Wendt, Vorsitzender der Geschäftsführung der Pirelli Deutschland GmbH, sprachen wir über die Neuentwicklungen und Trends bei den Kunden.

Im Interview gewährte Michael Wendt, Gechäftsführer Technische Ressorts bei Pirelli Deutschland, einen Einblick hinter die Kulissen. | Foto: Pirelli
Im Interview gewährte Michael Wendt, Gechäftsführer Technische Ressorts bei Pirelli Deutschland, einen Einblick hinter die Kulissen. | Foto: Pirelli
Christine Harttmann
(erschienen bei VISION mobility von Gregor Soller)

VISION Mobility: Geht der Trend auch in Europa hin zum All-Season-Reifen? Der Cinturato All Season SF2 bietet sehr gute Label-Werte und gute Winterperformance, ist aber trotzdem immer ein Kompromiss zwischen den möglicher Sommer- und Winter-Top-Performance. In der Praxis haben wir jedenfalls den Eindruck, dass das Lagern und Umbereifen sowohl im Privat- als auch im Flottengeschäft jedes Mal ein großer Aufwand ist, den immer mehr Kunden scheuen?

Wendt: Ja, zweifellos geht der Trend zum All-Season-Reifen, und das zunehmend zu Lasten reiner Sommer- oder Winterreifen. Die meisten Kunden analysieren sehr genau, in welchem Umfeld sie sich mit welchem Fahrzeug bewegen.  Selbstverständlich ist der Druck zu Wechseln in kalten oder bergigen Regionen größer als in milderen Zonen. Doch auch diese Gebiete kann es mit plötzlichen Wintereinbrüchen im wahrsten Sinne des Wortes „kalt“ erwischen, wie man erst kürzlich Anfang Februar 2021 feststellen konnte. Dessen ungeachtet steht fest dass die jahreszeitlich bedingte Performance von reinen Sommer- oder Winterreifen derjenigen von Ganzjahresreifen schon prinzipbedingt überlegen sein muss. Winterreifen sind auf jeden Fall vorzuziehen, wenn viele Kilometer im Winter gefahren werden oder wenn maximale Leistung bei allen winterlichen Bedingungen erforderlich ist.

Eine Neuheit ist auch das adaptive Profil. Bei den Ganzjahresreifen proklamieren sie die 3DTechnologie der Lamellen, die sich immer dann schließen, wenn es nicht schneit, und dadurch ein Winterprofil in einen Sommerreifen verwandeln. Wie muss man sich das in der Praxis vorstellen? Hängt das mit der Mischung zusammen, die ja einen „doppelten Peak“  “ führt? Sie ist weich und anpassungsfähig bei kalten und nassen Bedingungen, um bei trockenen Verhältnissen steif und stabil zu werden.

Wendt: Dazu tragen Mechanik und die Mischung gleichermaßen bei. Einerseits nutzen wir sogenannte 3D-Lamellen, die sich bei Wärme enger mechanisch verzahnen, was die Blocksteifgkeit erhöht. Andererseits haben wir ein innovatives Polymersystem eingeführt, das die Arbeitsbereiche deutlich vergrößert.  Erreicht wird dies durch zwei Peaks in der "Grip-Kurve" statt nur einem. Einen Peak bei niedrigen Temperaturen für optimale Schneeeigenschaften, und einen zweiten Peak bei höheren Temperaturen für die Optimierung der Trocken- und Nässeeigenschaften.

Wie muss man sich das genau vorstellen?

Wendt: Normalerweise erreichen wir bei den Reifen nur in einem gewissen Temperaturfenster optimale Bedingungen. Im Winter ist das eher bei niedrigen, im Sommer eher bei höheren Celsiusgraden der Fall. Durch die Polymermischung beim Cinturato All Season SF 2 ist es uns jedoch gelungen, zwei Peak-Fenster für herausragende Winter- und Sommereigenschaften zu kreieren. Diese Technologie haben wir zum Patent angemeldet.

Gilt dann Ähnliches auch für die Elect-Serien für Elektromobilität?

Wendt: Auch bei ihnen gilt es spezielle, teils widersprüchliche Anforderungen zu meistern: einerseits benötigen wir einen extrem geringen Rollwiderstand, andererseits viel Grip, um das gewaltige Drehmoment der E-Fahrzeuge aus dem Stand auf die Straße zu bringen. Viel Grip braucht es zudem in Kurven und beim Bremsen. Außerdem müssen die Elect-Reifen auf die meist hohen Gewichte der Elektroautos zugeschnitten und darüber hinaus geräuscharm sein! Auch hier greift  unsere „Perfect-Fit-Strategie“, mit der wir modellspezifische Reifen zusammen mit den einzelnen Fahrzeugherstellern entwickeln.

Tatsächlich lassen sich hier in der Praxis mittlerweile große Unterschiede feststellen. Wird diese Entwicklung sich verstärken und man eines Tages für ein Auto nur noch einen bestimmten Reifentypen haben?

Wendt: Jüngste Beispiele sind Reifen für den Rivian R1T oder den Porsche Taycan. Unser Portfolio an markenspezifischen Reifen wächst ständig - Pirelli ist die Marke mit den meisten Freigaben bei den Top-Automobilherstellern. Diese Reifen haben spezielle Kennungen wie bei BMW den Stern oder das Kürzel „MO“ für Mercedes Only. Tatsächlich werden für einzelne Modelle neue Profilreihen entwickelt und auch die Materialien und Strukturen des Reifens jeweils dimensionsspezifisch auf das jeweilige Fahrzeugmodell eingestellt. Aus diesen Gründen ist der Kunde bei einem Nachkauf immer am besten beraten, wenn er solch markierte Reifen kauft, die speziell auf sein Fahrzeug abgestimmt sind.

Und – kauft er oft genug modellspezifisch nach?

Wendt: Das hängt immer von den Kunden und dem Einsatzzweck der Fahrzeuge ab. Tatsächlich gibt es natürlich vor allem im Premiumbereich und in professionellen Flotten etliche Kunden, die auch beim Reifen das Optimum für ihr Modell suchen. Insbesondere dann, wenn die Fahrzeuge unter anspruchsvollen Bedingungen gefahren werden, wie bei kalten Winter in den Alpen, oder wenn ein Kunde im E-Auto Wert auf geringstmögliche Geräusche legt.

Neben den physikalischen und chemischen Optimierungen – werden die Reifen auch hinsichtlich ihrer Herstellungs-CO2-Bilanz besser?

Wendt: In der Tat fahren wir in unseren Werken kontinuierlich die CO2-Emissionen nach unten. Ein Beispiel: In unserem Werk in Breuberg ließen wir eine hocheffiziente Kraft-Wärme-Kopplungsanlage installieren und führten umfangreiche Infrastrukturmaßnahmen durch, um den Primärenergieverbrauch zu reduzieren. Hierbei nutzen wir die in unterschiedlichen Produktionsprozessen entstehende Abwärme im Winter für die Raumheizung, während wir sie im Sommer zur Kühlung der Produktionsprozesse und Gebäude in Kälte umwandeln.

Für welchen Kundenkreis wird das Zusatzangebot „TyreLife“ angeboten?

Wendt: Die kostenfreie Reifengarantie „TyreLife“  wird Privatnutzern und kleinen Flotten bis zu zehn Fahrzeugen angeboten.

Wie weit verbreitet sind die Technologien zur Verbesserung der Notlaufeigenschaften bei einem Reifenschaden?

Wendt: Die Seal Inside Technologie verschließt Durchstiche in der Lauffläche bis zu vier Millimeter Durchmesser und ist vor allem im VW-Konzern und dort speziell bei der Marke Volkswagen Pkw gelistet, seit kurzem auch bei Rolls Royce.   Mit der Run Flat-Technologie kann man trotz null Luftdruck noch bis zu 80 Kilometer mit 80 km/h zurücklegen . Sie wird vor allem von BMW eingesetzt, aber auch von Daimler, Audi und Alfa Romeo genutzt.

Gilt das auch für den neuen Cyber-Tyre für McLaren? Im Prinzip war es ja nur ein kleiner Schritt vom Reifendruckkontrollsystem zum „Cyber-Tyre“ – bis wann könnte das Standard werden und handelt es sich hier im ersten Schritt auch um eine Exklusiventwicklung für McLaren?

Wendt: In diesem Bereich geht die Entwicklung rasant weiter. Zum einen sind die Informationen über Reifentyp, -druck und -temperatur vor allem für Fahrer*innen von Sportwagen interessant, denn sie erhalten alle notwendigen Informationen über die spezifischen Temperaturfenster, vor allem auf der Rennstrecke. Doch darüber hinaus wird das System in der Zukunft mehr Sicherheit auf der Straße ermöglichen. Die nächste Generation unserer Cyber-Reifen wird auch die Beschaffenheit der Straße messen, um Aquaplaning-Situationen zu verhindern, oder den Grad der Feuchtigkeit auf der Fahrbahn ermitteln. Kombiniert mit der Kommunikation aller Fahrzeuge untereinander in Echtzeit über 5G, trägt ein intelligenter Reifen zu einem rasanten Zuwachs an Sicherheit bei. Denn nach wie vor entscheiden lediglich vier kleine Flächen je in Postkartengröße über das Verhalten des Fahrzeugs auf der Fahrbahn. Und je intelligenter diese kleinen Flächen sind, desto sicherer sind wir unterwegs!

Vita:

Der diplomierte Physiker Michael Wendt begann seine Laufbahn bei Pirelli 1989. Nach verschiedenen Stationen in der Reifenentwicklung am deutschen Standort in Breuberg wechselte er 2002 in die Konzernzentrale nach Mailand. Dort war er in leitender Funktion als Platform Manager High Performance (HP), Ultra High Performance (UHP) sowie Forschung und Vorentwicklung tätig. 2007 kehrte er nach Breuberg zurück und verantwortete daraufhin als Geschäftsführer den Bereich Forschung und Entwicklung (R&D). 2013 restrukturierte Pirelli Deutschland den Geschäftsbereich Technik. Als Geschäftsführer Technische Ressorts leitet Wendt seit dem 1. August 2013 neben Forschung und Entwicklung auch die Bereiche Produktion, Qualität sowie Vertrieb Erstausrüstung (OE) der deutschen Niederlassung. Seit 2017 ist er als Vorsitzender der Geschäftsführung für die gesamte deutsche Pirelli Organisation verantwortlich.

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