Vom Fühlen beim Fahren

„Begeisterfahrt“ bei Valeo: Wir fuhren im autonomen Drive4U-Pkw mit, der offenbarte, dass den kompetenten Assistenten zur völligen Perfektion (noch) etwas Entscheidendes fehlt.

Fahrt im autonomen Drive4U-Pkw | Bild: Valeo
Fahrt im autonomen Drive4U-Pkw | Bild: Valeo
Redaktion (allg.)

Nachdem es um das Thema autonomes Fahren zwischenzeitlich etwas ruhiger wurde, nimmt es aktuell wieder Fahrt auf – im wahrsten Sinne des Wortes. In München bot sich für uns die Gelegenheit, den aktuellen Stand der Dinge live zu „erfahren“: in einem Range Rover Evoque, in den Valeo sein gesamtes Know-how zum autonomen Fahren packte. Das waren in dem Fall fünf Lidar-, acht Kamera-, vier Radar- und zwölf Ultraschallsensoren, die alle bereits in Serie produziert werden. Was uns überraschte: Nach eigenen Angaben ist Valeo noch immer der einzige Serienhersteller von ­Serien-Lidar-Systemen.

Der Drive4U-Pkw von Valeo soll autonom nach Level 4 fahren können und war auf öffentlichen Straßen unterwegs. Das alles erfordert (noch) einen großen Rechner im Kofferraum. Laut Valeo soll der Prototyp in Innenstädten und Vororten typische Verkehrssituationen wie Staus, Kreuzungen, Kreisverkehre, Ampeln, Fußgängerüberwege oder Baustellen selbständig bewältigen können.

Standortlokalisierung: Zentimeter- statt metergenau!

Durch das Drive4U-Locate-System kann man die Fahrzeugposition im Straßenverkehr zentimetergenau lokalisieren. Zum Vergleich: Die Standardabweichung bei einem üblichen GPS-System liegt bei bis zu fünf Metern. Das ebenfalls integrierte MovePredict.ai-System nutzt außerdem künstliche Intelligenz. Es soll die Bewegungen schwächerer Verkehrsteilnehmer in der Fahrzeugumgebung antizipieren und bremst, bevor diese sich überhaupt von der Stelle bewegt haben.

Umso gespannter waren wir auf die Mitfahrt. Hinter dem Messeeingang Ost warteten Jörg Schrepfer, Head of Driving Assistance Research DAR Germany, und Sicherheitsfahrer Florian Lugert auf uns. Und der ließ das Auto nach dem Verlassen des Messegeländes allein machen! Also eingestiegen und losgefahren, vom Messe­gelände München Richtung Innenstadt. Den Weg von der Messe auf die Autobahn samt Ampeln erkennen die Valeo-­Systeme perfekt und geleiten den Evoque so gekonnt auf die A 94 Richtung München. Allerdings stoppt der „Valeovoque“ brav hinter einem Polizeibus auf der Abbiegespur zur Autobahn. Was das autonom fahrende Auto nicht erkennt: Der Polizeivan wird nie auf die Autobahn abbiegen, da er die Brücke während der IAA gegen Abseilaktionen sichert und deshalb auf der Abbiegespur stehen bleibt, ohne sich einen Millimeter fortzubewegen. Nach der Messe positioniert sich das Fahrzeug auch zur Abstands- und Geschwindigkeitskontrolle auf der Abbiegespur. Doch da die Valeo-Systeme nicht errechnen können, was im und neben dem Hindernis vor sich geht, greift Demofahrer Lugert kurz ein, um den Evoque auf die Autobahn zu geleiten.

Ab auf die Autobahn: Gekonnt (ein-)gefädelt

Dann beschleunigt der Evoque brav und fädelt gekonnt autonom ein, wobei dafür genug Platz sein sollte. Langsam wird klar: Immer wenn es knapp und uneindeutig wird, kommt das System an seine Regelgrenzen, denn es fehlt ihm eine wichtige menschliche Gabe: Intuition! Das zeigt auch der weitere Verlauf der Fahrt: So lange man sich im Fließverkehr hinter einem Bus befindet, klappt das autonome Fahren ganz gut und auch einige Überholvorgänge werden souverän gemeistert, sofern die nach hinten wachenden Systeme genug Platz für solche Manöver erkennen. Laut Schrepfer kommt es hier aber auch auf die „Feinjustierung“ an, die ganz auf Sicherheit programmiert war. Man könnte den autonomen Evoque auch „aggressiver“ programmieren.

Das hätte manches Mal geholfen: Als wir einen U-Turn machen und dazu an einer Kreuzung warten müssen, zögert der Evoque aus Sicherheitsgründen ewig, bis Demofahrer Florian Lugert ihm spontan die Sporen gibt, um eine etwas größere Lücke zu nutzen. Hier ist Rechenleistung gefragt, denn: Die Technik müsste jetzt erkennen, dass über einen längeren Zeitraum keine größere Lücke zum Einscheren zur Verfügung stehen wird und man deshalb beherzt aufs Gas treten muss, um die „relativ größte Gelegenheit“ zum Einscheren zu nutzen. Umgekehrt entscheiden sich immer mal wieder Fußgänger und Radfahrer „spontan noch schnell“ bei Rot über die Kreuzung zu huschen. Dann kann unser Wagen gar nicht vorsichtig genug agieren.

Das Einfädeln auf die Autobahn funktio­niert dann wieder wie von Geisterhand, die nächste Herausforderung wartet aber schon beim Wiedereinscheren nach einem Überholmanöver kurz vor der Abfahrt. Hier muss man schnell und knapp vor dem Überholten einscheren und dann zügig auf die Ausfahrtsspur wechseln und stark bremsen. Da der Abstand zum Einscheren dem System aber zu gering ist und der Demofahrer spürt, dass der eben Überholte seine Geschwindigkeit nicht reduzieren wird, muss er „peduell“ per Druck aufs Gaspedal einschreiten, um die Ausfahrt nicht zu verpassen.
Interessant war der Abgleich mit den Valeo-Mitfahrern im Auto: Auf die Frage „Lässt der uns noch rein?“ hatten alle unisono meist ein identisches Gefühl, in dem Fall: „Nein – dieses Fahrzeug wird nicht bremsen“. Umgekehrt waren sich alle Insassen beim U-Turn einig, wann die Lücke groß genug gewesen wäre, auch, weil das nächste herannahende Auto „gemütlich“ respektive defensiv fuhr. Das sind ganz kleine Nuancen, die man aber intuitiv erspürt.
Und genau dieses „Gefühl“ macht den großen Unterschied zwischen Mensch und Maschine, weshalb die Mitfahrt vergleichsweise „defensiv-digital“ verlief.

Denn der Mensch kann Situationen intuitiv glätten (oder im wahrsten Sinne des Wortes an die Wand fahren), die Maschine nicht. Die Regelsysteme haben im Vergleich zu unseren ersten Mitfahrten in autonomen Fahrzeugen vor einigen Jahren massiv dazugelernt und schaffen es, Standardsituationen, Staus oder dröge Autobahnfahrten gut zu meistern – womit sie uns massiv unterstützen.

Hauptfrage bleibt: Wie lernt der Bot „Bauchgefühl“

Doch den Ingenieuren bleibt ein ganz kniffeliger, sehr schwer zu lösender Punkt. Sobald es uneindeutig wird und der Mensch deshalb das „Bauchgefühl“ mit in den Entscheidungsprozess nimmt, tun sich die Bots schwer. Womit wir bei dem asymptotischen Punkt sind, dass die allerersten einfachen Fahraufgaben gut zu meistern waren und schnell Fortschritte brachten. Auch kniffeligere Situationen und regionale „Eigenheiten“ des Verkehrs in verschiedensten Ländern konnte man den Systemen in den letzten Jahren ganz gut beibringen. Aber jetzt, wo es um die letzten 20 bis 30 Prozent an Perfektion geht, wird es vergleichsweise schwierig – denn wie will man einem digitalen System „Gefühle“ beibringen? Weshalb es dann am Ende des Tages nicht so sehr verwundert, dass Valeo mit seiner Lidartechnik immer noch allein auf weiter Flur ist. Man darf gespannt sein, ob künstliche Intelligenz hier künftig helfen kann, Fahrt ins Thema Gefühl zu bringen.

Auf den Punkt

  • Es ist … eine große Anstrengung auf dem Weg hin zu unfallfreiem Straßenverkehr.
  • Ideal für … alle, die sonst gar nicht mehr am Straßenverkehr teilnehmen könnten.
  • Schön, dass … es in letzter Zeit so viele Fortschritte gab.
  • Schade, dass … der Teufel hier im Detail liegt.
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