Wissenschaftler zweifeln Stickoxid-Grenzwerte an

Eine Stellungnahme zahlreicher Wissenschaftler sieht Stickoxid-Grenzwerte als "wissenschaftlich unbegründet" - Der BUND hält dagegen und spricht von Effekthascherei.

Dicke Luft um Grenzwerte: Wissenschaftler ziehen die NOx-Grenzwerte der EU stark in Zweifel und halten sie für "unsinnig". Lärm und Feinstaub produziert der Verkehr an Brennpunkten wie dem Stuttgarter Neckartor trotzdem.
Dicke Luft um Grenzwerte: Wissenschaftler ziehen die NOx-Grenzwerte der EU stark in Zweifel und halten sie für "unsinnig". Lärm und Feinstaub produziert der Verkehr an Brennpunkten wie dem Stuttgarter Neckartor trotzdem.
Redaktion (allg.)

In einer Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP), der Deutschen Lungenstiftung und des Verbandes Pneumologischer Kliniken (VPK) zu den Auswirkungen von Stickoxidemissionen im Verkehr kommen mehr als 100 Wissenschaftler zu dem Schluss, dass die derzeit geltenden Grenzwerte beliebig seien und dringend neu bewertet werden müssten. Es gebe „derzeit keine wissenschaftliche Begründung für die aktuellen Grenzwerte für Feinstaub und NOx“, heißt es in dem Papier, über das die Zeitung Die Welt berichtet. Bisher ging die Politik mit den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation WHO davon aus, dass hohe NOx-Werte in Deutschland für 13.000 vorzeitige Todesfälle verantwortlich seien, Feinstaub verursache 66.000 vorzeitige Todesfälle, resümierte eine Analyse der Europäischen Umweltagentur EEA von 2017.

Bund Naturschutz: "Politische Effekthascherei"

Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND)  die Kritik der Ärzte postwendend als "politische Effekthascherei" zurück. Die Forderung der Experten, den europaweit geltenden Grenzwert für Stickstoffdioxid auszusetzen, sei unverantwortlich gegenüber der betroffenen Bevölkerung, erklärte Hamburgs BUND-Landesgeschäftsführer Manfred Braasch. Umso mehr wenn nicht der Beweis erbracht werde, dass diese für den Gesundheitsschutz nicht erforderlich seien, ergänzte der BUND-Mann.

Auch von wissenschaftlicher Seite kam vehementer Widerspruch. Holger Schulz, Direktor des Instituts für Epidemologie am Helmholtz-Zentrum meinte gegenüber der Süddeutschen Zeitung:

"Wir haben es mit einem enormen Gesundheitsproblem zu tun, das praktisch jeden Bürger betrifft und dem sich niemand entziehen kann".

Die deutsche Bevölkerung verliere 600.000 Lebensjahre durch Luftverschmutzung. Neben Lungenkrebs, Infarkt und Schlaganfall konstatierte er auch einen Zusammenhang zwischen Luftschadstoffen und Diabetes und Demenz. Er verweist auf sehr wohl vorhandene epidemiologische Studien über lange Zeit, außerdem hätten Tierversuche und Laborstudien nachgewiesen, wie Feinstaub und Stickoxide die Gesundheit gefährdeten. Zudem führt er an, dass Stickoxid nicht nur selbst schädlich, sondern auch ein Indikator für andere Luftschadstoffe wie Ruß, Ozon, CO2 und Kohlenwasserstoffe sei. Und man könne durchaus auch bei jungen gesunden Rauchern Entzündungszeichen in der Lunge und im Blut erkennen, ähnlich wie bei Feinstaub und Stickoxiden, so der Mediziner weiter.

Facharzt Köhler: Raucher müssten binnen Wochen "tot umfallen"

Auf die WHO-Studie beruft sich das Papier, das vom Lungenmediziner Dieter Köhler, ehemals Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie, und drei weiteren Autoren verfasst wurde. Er kommt zu dem Schluss, dass ungefähr die gleiche Anzahl an Menschen in Deutschland an durch Zigarettenrauch bedingten Lungenkrebs und an chronisch obstruktiver Lungenerkrankung (COPD) sterben.

„Lungenärzte sehen in ihren Praxen und Kliniken diese Todesfälle an COPD und Lungenkrebs täglich; jedoch Tote durch Feinstaub und NOx, auch bei sorgfältiger Anamnese, nie. Bei der hohen Mortalität müsste das Phänomen zumindest als assoziativer Faktor bei den Lungenerkrankungen irgendwo auffallen“, erklärte Köhler gegenüber der Zeitung.

Die Grenzwerte aus der EU-Verordnung hält er für „völlig unsinnig“. Aus seiner Sicht müsste ein Raucher innerhalb weniger Wochen "tot umfallen", wenn man diese Belastung mit der angeblichen Belastung durch Feinstaub vergleiche, schilderte Köhler drastisch. Er meinte schon im November gegenüber der Welt: "Der Diesel ist jedenfalls unschuldig".

Wissenschaftler: Tendenziöse Interpretation durch WHO

Nach Ansicht der Mitautoren sei es "sehr wahrscheinlich, dass "die wissenschaftlichen Daten, die zu diesen scheinbar hohen Todeszahlen führen, einen systematischen Fehler enthalten“. Sie warfen der WHO vor, die Daten "extrem einseitig zu interpretieren, immer mit der Zielvorstellung, dass Feinstaub und NOx schädlich sein müssen". Andere Interpretationen der Daten seien aber möglich, "wenn nicht viel wahrscheinlicher", so die Wissenschaftler Thomas Koch (Leiter des Karlsruher Instituts für Kolbenmaschinen, früher in der Daimler-Motorenentwicklung), Martin Hetzel (Pneumologe und Geschäftsführer des VPK) und Matthias Klingner (Leiter des Fraunhofer-Instituts für Verkehrs- und Infrastruktursysteme in Dresden).

Der derzeitige Grenzwert liegt im Freien bei 40 Mikrogramm NO2 pro Kubikmeter Luft, in Büros beträgt der Wert 60 Mikrogramm, in Produktionen sogar 950 Mikrogramm. Jüngst hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Anhebung des Grenzwertes auf 50 Mikrogramm im Sinne einer "Güterabwägung" ins Gespräch gebracht. Ob die Stellungsnahme politisch etwas in Bewegung bringt, ist derzeit unklar, solange die EU-Grenzwerte unverändert bleiben.

Foto: J. Reichel

Printer Friendly, PDF & Email