Zeitenwende für den Bulli

Mit flottem Antrieb, flockigem Handling, fixer Assistenz und Vernetzung stellt der MEB-Van die Verbrenner-Brüder und den ABT-E-Umbau in den Schatten. Praktischer ist er nicht unbedingt.

Zeitenwende für den Bulli | Bild: Volkswagen Nutzfahrzeuge, Johannes Reichel
Zeitenwende für den Bulli | Bild: Volkswagen Nutzfahrzeuge, Johannes Reichel
Redaktion (allg.)

Ein Mosaikstück soll der ID.Buzz und der „Nutzi“-Bruder Cargo sein, so sieht es die Konzerntochter Volkswagen Nutzfahrzeuge. Eines, das die vollelektrische Lücke schließt, die im Programm noch bleibt – sieht man mal vom frühen Vorstoß mit dem e-Crafter ab. Der „trägt“ den e-Golf-Antrieb auf, gar nicht übel für die Zwecke. Aber das ist ein anderes Zeitalter. Von einem „Gamechanger“ spricht Hannover: Mit dem MEB spreizt man die Plattform erstmals ins Van-Segment – und geht dabei bis an die Grenzen, mit bis zu 3,4 Tonnen Gesamtgewicht.

Die sind nötig, um die MEB-Akkus unterzu-bringen – und dabei bis zu 750 Kilogramm Nutzlast zu schaffen. Das ist im „Ein-Tonner-Segment“ nicht viel – und etwa auf dem Level eines VW Caddy. Aber der ID.Buzz fährt zwischen klaren Klassenzuordnungen und sortiert sich bei den „Nutzis“ unterhalb des T6.1, bei den Pkw unterhalb des T7 – und oberhalb des Caddy sowie Caddy Maxi – ein. Vollelek­trisch behalf sich der Konzern in der Kompaktklasse mit dem gar nicht schlechten, aber teuren Elektroumbau in Kooperation mit ABT e-Line. Mit dem ID.Buzz wohl Geschichte. Geht es nach dem ersten Fahreindruck mit den auffällig folierten Vorserienfahrzeugen, fährt er nicht dazwischen, sondern voraus respektive auf und davon: Der ID.Buzz fühlt sich an wie aus der neuen Zeit. Der flüsterleise Heckantrieb lässt das Fahrzeug ohne das „gewohnte“ Zerren in der Lenkung geschmeidig anfahren und mit 150 kW sowie 310 Nm ansatzlos nach vorne schnellen, ohne jede Ruppigkeit im Triebstrang, ohne Lärm eines Diesels, eine bisher unerreicht nahtlose Art der Fortbewegung. Auf die Autobahn fädelt man in einem Wimpernschlag ein, springt in Lücken – oder überholt zackig auf der Landstraße. Dabei kriecht der E-Bulli auch sanft los oder setzt sich bei „Auto Stop“ erst mit Druck aufs Fahrpedal in Bewegung. Rangieren klappt wohldosiert und der U-Turn dank eines sensationellen Wendekreises von elf Metern gefühlt wie mit dem Zirkel gezogen.

Auch das verschleißfreie Verzögern mit der einstufigen, situationsabhängigen Rekuperation läuft geschmeidig und erübrigt viele Beibremsungen – eigentlich fehlt nur „One-Pedal-Driving“ zum vollen Kurierfahrerglück. In Anbetracht des schlicht nicht hörbaren Motors fällt umso mehr auf, dass auch die Dämmung gelungen ist: Windgeräusche sind minimal, man unterhält sich bei BAB-Tempo – sinnvoll limitiert auf 145 km/h – problemlos, die Abrollgeräusche sind minimal, die Türen satt gedichtet. In Fahrt fällt bei der etwa 2,7 Tonnen schweren Fuhre das exzellente Rollvermögen auf, das zu der formal 420 Kilometer Reichweite der 77-kWh-Version beitragen soll.

Das größte Plus gegenüber den konventionellen Geschwistern erweist sich bei Schlaglöchern: Enorm verwindungssteif, mit trockenem Ploppen verarbeitet das Fahrwerk jeden Unbill der Piste, keine Spur vom typischen Trampeln eines T6.1 oder auch T7. Dank des 77-kWh-Akkus unter dem Boden (82 kWh brutto) ist die Straßenlage selbst bei heftigen Böen des Frühjahrsunwetters in Hamburg stoisch, wozu sicher auch die üppige Bereifung mit 18 Zoll in der Basis, hinten breiter als vorn, beiträgt. Räder bis 21 Zoll sind möglich. Der ID.Buzz fährt sich nicht so spitz wie der ID.3, aber souverän und wie aus einem Guss, mit guter Mischung aus Komfort und Agilität.

Assistenz: Schwarm-Infos

Überhaupt liegt der E-Bulli gut im Wind: Die Aerodynamik ist für einen 1,93 Meter hohen und mit 1,98 Meter stattlich breiten Bus (VW T6.1: 1,97 Meter breit, 1,90 Meter hoch) mit cW-Wert von 0,28 top. Das trägt dazu bei, dass die Effizienz auf einer ersten 40-Kilometer-City-Überland-Runde mit 21 kWh/100 km auf für das Kaliber sparsamem Niveau liegt. Das Lenkgefühl ist über Land wie in der Stadt direkt und doch leichtgängig, Schläge bekommt man kaum ins Volant. Die Fahrerassistenz funktioniert akkurat und soll in quartalsweisen Updates immer besser werden. Erstmals eingeführt im ID.Buzz wird zu den teilautomatisierten Travel-Assist-Goodies mit Spur-, Abstands-, Notbremsassistent auch eine Datensammlung per Schwarm, die sich mit anderen ID.-Modellen vernetzt. Auch Car2X-Kommunikation mit der Infrastruktur, sofern die denn „spricht“, ist eingeplant. Dazu eine Park-Assist-Funktion, die sich Orte merkt, eine Art Parkplatz-Memory – wer auch immer das in Anbetracht der guten Spiegel, der präzisen Rückfahrkamera und des kleinen Wendekreises braucht. Dazu gesellt sich eine tadellose Übersicht nach vorn und diagonal, dank Dreiecksfenster mit schlanken Streben. Allenfalls die kleine Hutze für die Kamera schränkt den Blick etwas ein. Man sitzt nicht ganz so hoch auf dem Elektrowagen wie beim T6 oder T7, dafür auf bequemen AGR-Sitzen. Das Infotainment und das reduzierte Digitalcluster mittig kennt man aus den ID.-Modellen. Speziell in einem Nutzfahrzeug stört die fisselige Wisch-&-Weg-Bedienung.

Er kann auch praktisch

Dafür ist der Raum vor dem Mittelplatz rigoros freigeräumt, sodass auch ein zweiter Beifahrer gut Bein- und Fußraum genießt. Außerdem steigt man völlig problemlos durch, die kleine Stufe stört kaum. Auch die Ablagen sind üppig und über die ganze Cockpitbreite gezogen, das Handy bekommt eine tiefe und induktive Ladeschale. Ohne Doppelsitz bekommt man ähnlich dem ID.3 mittig eine ausbaubare Box, die gut für Ordnung sorgt. Die Verarbeitung ist bereits bei den Vorserien­fahrzeugen knarzfrei und sauber, die Kunststoffe für ein Nutzfahrzeug ansehnlich, zudem robust und kratzfest.

Apropos robust: Gegenüber den „glatteren“ Studien, wie dem „Ur-ID.Buzz“ von 2017, haben die Ingenieure die Frontpartie stärker zweigeteilt, sodass die Stoßfänger separat repariert werden können. Auch die Aerodynamik ist so optimiert. Unter der Stummelhaube findet sich eine „Wartungsklappe“, die den Weg zu Wischwasserbehälter und Kühlflüssigkeit öffnet.

Die Nachteile des Heckantriebkonzepts finden sich, wie es sich in der Studie auf der IAA 2018 andeutete, im Laderaum. Und die teilt der 4,71 Meter lange ID.Buzz mit seinem Urahn. Den gab es als T2 übrigens vor exakt 50 Jahren schon mal als Elektromodell: mit 21,6-kWh-Batterie, 32-kW-Motor, 85 Kilometer Reichweite und 75 km/h Höchsttempo. Der Frachtraum des ID-Bulli liegt mit 62 Zentimeter weit oben. Der beim Cargo obligate Boden verschenkt etwa zehn Zentimeter (Lade-)Höhe, sodass man hier nicht mehr bietet als ein sieben Zentimeter flacherer Caddy. Nicht sensationell ist das Volumen von 3,9 m³. Zum Vergleich: Ein noch kürzerer Opel Vivaro/Peugeot Expert/Citroën Jumpy XS bietet hier bei 4,60 Meter Länge als Diesel mit 4,6 m³ sowie Durchladeoption bis 5,1 m³ viel mehr. Die Elektrovariante gibt’s aber erst ab mittlerer Länge. Ein Opel Combo e-Cargo mit 50-kWh-Akku und maximaler Reichweite von 285 Kilometern in L2 fasst bei vier zusätzlichen Zentimetern (4,75 Meter) 3,9 bis 4,4 m³ Volumen. Beim ID.Buzz verteilt sich das Volumen auf eine dank Stummelhaube gute, zum 4,85 Meter langen Caddy Maxi fünf Zentimeter bessere Ladelänge von 2,2 Meter und Breite von 1,7 Meter. Einen Klapp- oder Drehbeifahrersitz nach Vorbild der französischen Konkurrenz gibt es wie bei Caddy und T6.1 nicht.

Platz für zwei Paletten

Dafür ist bei einem T6-Radstand von fast drei Metern und 1,23 Meter zwischen den schmalen Radkästen Platz für zwei Paletten. Seitlich öffnet der E-Bulli ordentlich, aber mit 75 Zentimeter nicht weit genug. Wer mehr braucht, muss zum Caddy Maxi (83 Zentimeter) oder besser weiter zum T6.1 greifen – oder auf dessen Nachfolger warten. Der wird von Ford entwickelt und kommt wohl mit dem E-Transit-Heckantrieb auf einer erneuerten, schwereren Plattform. Den professionellen Eindruck runden zehn stabile Zurrringe ab, wahlweise gibt es ein Airline-Schienensystem.

Die Pkw-Varianten, in denen man bequem auf gut konturierten, mit Recyclat­stoffen bezogenen Sitzen Platz nimmt, soll es im Gegensatz zum Cargo, bei dem der T6.1 eine Art „Nestschutz“ erhält, auch in Langversion geben, die 25 Zentimeter mehr misst. Künstliche Distinktion, nennt man das wohl. Der Kofferraum fasst formal 1.121 Liter. Die Sitze lassen sich zwar leicht nach vorne schieben und die Lehne mit stabilem Rücken umklappen, aber eben nicht wie beim T7 ausbauen. Seltsam, aber durch den Heckmotor bedingt, ist die „Kuhle“ hinter der Sitzreihe. Der Klappmechanismus per Hebelchen ist aber sehr elegant gelöst. Abstriche muss man neben der Nutzlast auch bei der Anhängelast hinnehmen (max. 1.000 kg, Caddy 1.500 kg, T6.1 2.500 kg).

Letztlich wird vor allem auch der Preis für „Distinktion“ sorgen, der zwischen 55.000 Euro und 63.000 Euro beim Kombi, 45.000 Euro beim Cargo ansetzen dürfte, die Prämie nicht einberechnet. Das gilt etwas weniger für den Pkw, der nicht weit über dem T7-Topmodell, dem eHybrid mit altbackenem Plug-in-Hybrid-Kombi aus 1,4-Liter-TSI und „kleinem“ Elektro­motor, eingepreist werden soll. Wobei VW Nutzfahrzeuge noch eine Akkugröße von etwa 100 kWh nachlegen will. Die stößt dann reichweitenmäßig in ähnliche Dimensionen vor wie der eHybrid T7, mindestens. Von über 500 Kilometern ist die Rede. Zudem wird die Topversion nach Vorbild der ID.-Pkw dank zusätzlichem E-Motor vorn Allrad und wohl 299 PS bieten.

Dank Schnelllader mit bis 170 kW Ladeleistung (Standard 120 kW) dürfte sich auch die Langstreckenfrage ehrlicherweise erledigt haben: Von fünf auf 80 Prozent lädt der E-Bulli in 30 Minuten, bei ausreichend Saft der Säule. An die muss er übrigens heckseits rangiert werden, die Ladebuchse ist etwas unpraktisch an der „Tankstutzen­position“ platziert.

Das jüngst im Konzern bei den ID.-Modellen gestartete Plug & Charge bekommt natürlich auch der ID.Buzz von Anfang an mit auf den Weg. Es funktioniert zum Start bei Ionity, Aral, BP, Enel, E.On sowie Iberdrola und Eviny und erübrigt Ladekarte oder Chip. Auch eine „smarte“ Home-Charging-Funktion mit strompreisabhängigem Lademanagement in AC mit bis zu elf kW Leistung ist vorgesehen. Perspektivisch greift auch eine implementierte Vehicle-to-Grid-Option. Dann wird der Bus zum Pufferspeicher etwa für die eigene Photovoltaikanlage.

Bei den Nutzfahrzeugen wiederum könnte die für 2023 angekündigte, preiswerte „Pure“-Basisversion mit kleinem 52-kWh-Akku viele Freunde finden, denen der Radius von wohl gut 300 Kilometern völlig genügt. Zumal ein CCS-Schnelllader standardmäßig an Bord ist. Zudem bedeutet das „Weniger“ an Akku neben dem niedrigeren Preis ein deutliches „Mehr“ an Nutzlast. Selbst gewerbliche Langstreckler glaubt man „abholen“ zu können, wenn sie Pausen zum Laden nutzen.

Fazit: Wozu noch einen PHEV?

Die Argumente für den Plug-in-Hybrid, aber auch für den Diesel werden in Anbetracht dieses modern geschnürten Strompakets immer dünner. Wer 2022 eine zukunftssichere Wahl treffen will und leichte Abstriche bei Nutzlast, Raumangebot und Preis machen kann, nimmt besser gleich den „echten“ Strombus. Premiere war am 9. März, Produktionsstart in der ersten Jahreshälfte, Markteinführung in Europa dann im Herbst. Und natürlich soll die Bulli-Legende auch in den USA elektrisch aufleben. Vielleicht gibt’s im Stammland der Hippie-Bewegung ja eine Version mit Regenbogen-Lackierung.

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